D as Zeug heißt Thorium. Es glänzt in einem silbrigen Grau, und die Menge, die nötig wäre, um so viel Energie zu erzeugen, wie Sie in Ihrem ganzen Leben verbrauchen werden, wäre nicht größer als eine Kugel, die locker in Ihren Handballen passt. Dass Thorium so häufig sei wie Sand am Meer, wäre gewiss eine Übertreibung. Es ist aber jedenfalls häufiger als das Uran, das heute in Atomkraftwerken verwendet wird – darum auch sehr viel billiger. Große Vorkommen an diesem schwach radioaktiven Metall gibt es in Indien, den Vereinigten Staaten, in Norwegen; auch in der Türkei werden Hunderttausende Tonnen vermutet.
Bei heutigen Atomkraftwerken handelt es sich im Prinzip um riesige Anlagen, in denen Wasser gekocht wird. Die Nachteile jener Anlagen verrät Ihnen jeder Atomkraftgegner auch ungefragt: Das Ensemble muss ständig mit Wasser heruntergekühlt werden. Wenn das Wasser fehlt (etwa weil Generatoren ausfallen, weil eine Tsunamiwelle sie überschwemmt hat), passiert das, was die Welt mit angehaltenem Atem in Fukushima verfolgt hat: Es kommt zur Kernschmelze.
Auch ohne Super-GAU fällt in herkömmlichen Atomkraftwerken Atommüll an, der noch strahlen wird, wenn sich niemand mehr an unsere Kindeskinder erinnert. Außerdem kann man mit dem Plutonium, das in Atomkraftwerken erbrütet wird, sehr hässliche Bomben bauen. Hier noch ein Problem, das Atomkraftgegner in der Eile meistens vergessen zu erwähnen: Es handelt sich um keine sehr effiziente Art der Stromerzeugung. Nur ein winziger Bruchteil des Urans (0,5 Prozent) wird wirklich genutzt.
Thoriumkraftwerke funktionieren grundlegend anders. Es kann nicht zu einer Kernschmelze kommen, da der Kernbrennstoff längst geschmolzen ist – er wurde in einer Flüssigsalzlösung aufgelöst. Kein Dampf entsteht. Nichts steht unter Druck; über keinen Teil der Anlage muss ständig Wasser gegossen werden, damit sie nicht heiß läuft. Die Flüssigkeit, mit der die Turbinen getrieben werden, dient gleichzeitig als Kühlflüssigkeit. An der Unterseite der Anlage befindet sich ein Salzstöpsel, der mit der vom Kraftwerk erzeugten Elektrizität auf eine extrem niedrige Temperatur heruntergekühlt wird.
Bei einer Havarie bleibt der Strom weg, ergo schmilzt der Stöpsel: Die radioaktive Flüssigkeit läuft in einen tiefer gelegenen Tank aus. Dies geschieht auch dann, wenn die Leute, die das Kraftwerk betreiben, Wodka-Gelage feiern oder an akuten Wahnvorstellungen leiden. Waffenfähige Feststoffe werden beim Betrieb eines solches Thoriumkraftwerks gar nicht produziert. Die geringen Mengen an radioaktivem Abfall, die dabei herauskommen, strahlen nur circa 300 Jahre lang. Und das Beste: Mit einem solchen Kraftwerk könnten wir auch den vorhandenen Atommüll peu à peu abbauen und zur Stromerzeugung nutzen.
Der offenkundigste Vorzug des Thorium-Flüssigsalzreaktors sollte zumindest nebenbei auch noch erwähnt werden: Er bläst kein Gramm CO2 in die Erdatmosphäre. Er ist sogar umweltfreundlicher als Windturbinen und Solarzellen: Er zerhackt keine Vögel, und bei seiner Entsorgung müssen keine hochgiftigen Seltenen Erden in Sondermülldeponien verbuddelt werden. Der Thorium-Flüssigsalzreaktor hat zudem den Vorteil, dass er auch bei Flaute und nach Sonnenuntergang funktioniert. Mit seiner Hilfe kann also auch die Stromversorgung einer Stadt wie Shanghai oder Hamburg gesichert werden.
Wenn der Reaktor zu viel Strom produziert, könnten wir die Energie benutzen, um Wasser in Sauerstoff und Wasserstoff aufzuspalten. Mit dem Wasserstoff lassen sich dann Wasserstoffautos betanken, die nicht nur keine Abgase produzieren, sondern die Luft beim Fahren sogar sauberer machen. Oder wir könnten Anlagen betreiben, die CO2 aus der Atmosphäre einfangen und so komprimieren, dass man es unterirdisch einlagern kann.
Das Praktische am Thorium-Flüssigsalzreaktor ist, dass er nicht erst erfunden werden muss. Ein Prototyp wurde 1954 mit Erfolg am Oakridge National Laboratory in Tennessee getestet, ein zweiter Prototyp lief am selben Ort von 1965 bis 1969. Als einziger Nachteil wurde die Korrosion der Metallgehäuse durch das flüssige Salz ermittelt — allerdings waren die Konstrukteure zuversichtlich, dass dieses Problem lösbar sei.
Und heute haben wir mehr Legierungen zur Verfügung als vor einem halben Jahrhundert. Warum wurden dann in den westlichen Industrieländern in den Fünfzigerjahren die altmodischen Uran-Wasserkocher gebaut und nicht die Thorium-Flüssigsalzreaktoren? Nebbich: Der Kalte Krieg war schuld. Zumindest am Anfang wurde in amerikanischen und sowjetischen Kernkraftwerken auch das Plutonium erbrütet, das dann in die Atomsprengköpfe kam.
Die Folge: Es gab danach einfach mehr Infrastruktur für Uranreaktoren — und keine für die ganz und gar friedliche Thorium-Flüssigsalz-Variante. Die breite Autobahn führte in diese Richtung. Nur ein Feldweg – den zudem nur Eingeweihte kannten – führte in eine Zukunft ohne Angst vor Kernschmelzen und ohne menschengemachten Klimawandel.
In China und Indien ist das anders. Dort wird der meiste Strom zwar leider noch auf die schmutzigste Art mit Kohle erzeugt; weil die Regierungen dort aber eingesehen haben, dass das nicht so gut ist, setzen sie verstärkt auf Thorium. Indien will mithilfe von Thorium-Flüssigsalzkraftwerken innerhalb von wenigen Jahrzehnten die Energieunabhängigkeit erreichen.
Hier nun ein praktischer Vorschlag: Die Deutschen, die in ihren besten und schlechtesten historischen Momenten ein Volk der Tüftler und Ingenieure waren, sollten es ihnen gleichtun. Sie sollten Thoriumreaktoren für den eigenen Gebrauch bauen, und sie sollten diese Kraftwerke dann auch noch exportieren. Noch ließe sich auf diese Weise ein enormer Reibach machen – hergehört, Vorstände von Siemens und Uniper!
In ökologischer Hinsicht wäre dies natürlich ein Panthersprung nach vorn: Deutschland könnte sehr schnell aufhören, Braunkohle zu verbrennen. Hässliche Windparks könnten abgebaut werden. Es wäre aber auch ein sozialer Fortschritt: Die Strompreise (die vor allem für arme Haushalte eine Last sind) könnten wieder sinken. Last but not least ergäbe sich daraus ein weltpolitischer Vorteil. Von welchem Land, liebe Leserin, möchten Sie lieber abhängig sein – von Russland oder von Norwegen?
Mit Nord Stream 2 kann schnell große Kälte und Dunkelheit hereinbrechen, wenn Genosse Putin es will (oder sein Nachfolger). Mit Thoriumkügelchen dagegen lassen Sie sich auf eine enge Partnerschaft mit einem Königreich ein (Bevölkerung: circa fünf Millionen, politisches System: verlässlich liberal), dessen außenpolitische Ambitionen sich darauf beschränken, dass es gern Teil der Nato bleiben will.
Eigentlich, sollte man meinen, sind Thorium-Flüssigsalzreaktoren das, was man in Amerika einen no brainer nennt. Eigentlich sollten alle dafür sein: von Luisa Neubauer bis zu Angela Merkel, von der CSU bis zur Linkspartei, von den Kapitalisten bis zu den Sozialhilfeempfängern. So ist es aber nicht. Atomkraft — jede Art von Atomkraft — gilt in Deutschland als Teufelszeug, obwohl bis heute weniger Leute daran gestorben sind als bei der Verbrennung fossiler Brennstoffe (an der Reaktorhavarie in Fukushima starb niemand).
Als einziges legitimes Mittel gegen den Klimawandel gilt in Deutschland: Verzicht, Verzicht, Verzicht. Die einzig zugelassene Form der Predigt ist die Moralpredigt. Der Gedanke, dass ein technisches Problem (wir Menschen blasen zu viel von einem bestimmten Gas in die Luft) auch mit technischen Mitteln gelöst werden könnte, gilt beinahe als ketzerisch. Wird sich das je ändern? Vielleicht doch. Frankreich zog sich unter Charles de Gaulle aus Algerien zurück.
Amerika nahm diplomatische Beziehungen mit Rotchina auf, als im Weißen Haus ein ausgewiesener Kommunistenfresser saß – Richard Nixon. Analog wäre vorstellbar, dass die Deutschen sich die Atomkraft-Nein-Danke-Aufkleber von den Augen ziehen und klar in die Welt blicken, wenn endlich ein grüner Kanzler die Regierungsverantwortung übernimmt. Robert Habeck, gehen Sie voran!
Die WELT als ePaper: Die vollständige Ausgabe steht Ihnen bereits am Vorabend zur Verfügung – so sind Sie immer hochaktuell informiert. Weitere Informationen: http://epaper.welt.de
Der Kurz-Link dieses Artikels lautet: https://www.welt.de/214881970