Feuer im Amazonas: Geheimdokumente zeigen, was Brasiliens Präsident will - FOCUS online

2022-09-16 21:41:38 By : Ms. Lianghong Duan

Für einen Soldaten wie ihn muss dieser TV-Auftritt so etwas gewesen sein, als hisse er die weiße Fahne. Monatelang hatte Jair Bolsonaro versucht, die Rodungen am Amazonas zu leugnen, zu bagatellisieren, zu vertuschen. Und auch als der Wald an mehreren Tausend Stellen Feuer gefangen hatte, wusste Brasiliens Präsident keinen anderen Schuldigen als die Sonne, den Wind und die Umweltschützer, die angeblich zündelten, um ihn in aller Welt anzupatzen.

Erst nachdem sich an einem Montagnachmittag ruß-schwarze Nacht über die Millionenmetropole São Paulo legte, nachdem Frankreichs Präsident Emmanuel Macron das Platzen des kürzlich vereinbarten Freihandelsabkommens mit der EU androhte und nachdem Brasiliens Sojabarone ihn bestürmten, stellte sich Jair Messias Bolsonaro vor die Kameras und sprach: „Es ist unsere Pflicht, den Wald zu schützen.“

Dass der Staatschef dann noch 44.000 Soldaten in den Kampf gegen die Flammen kommandierte, bekamen viele Zuschauer kaum noch mit, denn in allen Großstädten griffen empörte Bürger zu Töpfen, Bratpfannen und Kochlöffeln, um damit Radau zu machen. Es war der erste landesweite ökologische Protest in einem Land, das seit fünf Jahrhunderten einen Kreuzzug gegen die Natur führt. „Es brennt doch in aller Welt“, sagte Jair Bolsonaro. „Die Feuer können doch kein Grund für internationale Sanktionen sein.“

Und doch: Sie können. Frankreich und Irland wollen das im Juni beschlossene Freihandelsabkommen zwischen der EU und dem Mercosur blockieren. Aber der Grund dafür sind nicht die Feuer, sondern er, der politische Pyromane im Präsidentenpalast.

Seitdem Bolsonaro am Neujahrstag sein Amt übernahm, deaktivierten er und sein Umweltminister Ricardo Salles gezielt sämtliche Systeme, die den Raubbau am größten kontinentalen Sauerstoffgenerator dokumentieren und sanktionieren. Ohne Beweise vorzulegen, behaupteten sie, die seit 1988 von der nationalen Weltraumbehörde angefertigten Satellitenaufnahmen seien inkorrekt.

Anfang August feuerte Bolsonaro den Chef des Raumfahrtinstituts, das zuvor gemeldet hatte, dass im Juli 278 Prozent mehr Flächen gerodet wurden als im gleichen Monat des Vorjahrs. Zwischen August 2018 und Juli 2019 seien rund 6830 Quadratkilometer Tropenwald vernichtet worden. Inzwischen verschwindet in Brasilien nun jede Minute eine Waldfläche vom Ausmaß dreier Fußballfelder.

Nachdem die deutsche und die norwegische Regierung im August mitteilten, nicht weiter in den Amazonas-Fonds einzuzahlen, aus dessen Mitteln Walderhaltungsprogramme finanziert wurden, polterte Bolsonaro, er brauche die Millionen aus Berlin nicht. Kanzlerin Merkel solle damit ihr eigenes Land aufforsten.

Solche Statements kommen gut an in einem Land, das seit Jahrzehnten vermutet, dass Europäer und Nordamerikaner Brasilien den Zugang zu dessen Reichtümern vorenthalten wollten, um dem Land den Aufstieg in die Weltliga zu verwehren. Umweltschutzgruppen und Menschenrechtler seien finanziert von europäischen Regierungen und unterwandert von Geheimdiensten.

Bolsonaro und seine Minister teilen ganz offenbar diese Paranoia, wie sich aus Regierungsdokumenten vom Februar 2019 ablesen lässt, die der Stiftung open Democracy zugespielt wurden. Dort ist von einer „globalistischen Kampagne“ die Rede, welche die „nationale Souveränität im Amazonasbecken“ untergraben und „die Handlungsfähigkeit der Regierung einschränken“ wolle.

Vor der Welt-Klima-Konferenz in Paris hatte 2015 der damalige kolumbianische Präsident Juan Manuel Santos die Einrichtung eines Schutzgebiets Anden-Amazonas-Atlantik vorgeschlagen. Nachdem allerdings weder Brasilien noch Venezuela mitzogen, verebbte die Initiative. Im Vorjahr haben 500 Indigenen-Organisationen aus neun Ländern den Plan reaktiviert und könnten bald schon hochrangige Unterstützung bekommen bei der Amazonas-Synode, die auf päpstliche Initiative im Oktober im Vatikan tagen wird.

Bolsonaro will diese Absichten durchkreuzen. Eines der geleakten Dokumente mit dem Titel „Strategische Agenda“ trägt seine Unterschrift. Darin heißt es: „Die Integration der Nordseite des Amazonas mit dem Rest des nationalen Territoriums, um internationalem Druck für die Implementierung des AAA-Projekts zu begegnen.“ Konkret soll die von Süden nach Norden führende Amazonas-Bundesstraße BR-163 bis an die Grenze des Nachbarstaats Surinam ausgebaut werden. Ein Wasserkraftwerk und eine Brücke über den Strom sollen den Anden-Atlantik-Korridor kreuzen.

Zufall oder nicht: Ausgerechnet entlang der BR-163 brachen nun besonders viele Brände aus. Mehrere Grundbesitzer der Region um die Stadt Novo Progresso hatten sich am 10. August ganz offen zu einem „Feuertag“ verabredet. Bereits fünf Tage vorher hatte eine lokale Website die Vorhaben der Farmer publiziert, die, „gestützt auf die Worte des Präsidenten“, mit Feuern ihre Felder und neu gerodete Flächen säubern wollten. Als die Pläne publik wurden, warnten Vertreter der Umweltbehörde Ibama ihre Vorgesetzten in Brasília. Doch aus dem Ministerium kam keine Reaktion.

Doch nun, nachdem der Präsident live im Fernsehen eine „rigorose Aufklärung“ ankündigte und versprach, „illegale Abholzung und andere kriminelle Aktivitäten, die unsere Wälder gefährden“, zu verfolgen, hat Brasiliens Generalstaatsanwältin Raquel Dodge einen „Verdacht auf eine orchestrierte Aktion“ bestätigt.

In Novo Progresso an der BR-163 fragen sich nun die Farmer, ob sich die Welt noch richtig dreht. Buschbrände sind für den Bauernführer Agamenon da Silva Menezes völlig normal, mit Feuer schafft sich Brasilien seit Jahrhunderten Platz. Immer wieder war der Amazonas für die Regierungen auch ein soziales Überlaufbecken, wenn die Not in den Städten zu groß wurde.

Dass Bolsonaro nun klein beigibt, will dem Farmer da Silva nicht einleuchten. „Wir werden die Kontrolle über den Amazonas nicht aufgeben“, sagt er. „Wir haben günstige und gute Produkte anzubieten. Wenn die Europäer die nicht wollen, verkaufen wir sie halt nach China oder sonstwohin.“

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